Religion – die beharrliche Illusion                                                                                                                     Der Mensch steht staunend, erschrocken, sprachlos dem letztlich Unerklärlichen seiner Existenz und der aller Wesen und Phänomene gegenüber. Warum gibt es mich überhaupt? Warum gibt es überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? Kant hat dazu abschließend in seiner „Kritik der reinen Vernunft“ festgestellt: „Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: dass sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft.“ Statt diese Unergründlichkeit auszuhalten, wird im Christentum die Zuflucht zur Existenz eines allmächtigen Gottes genommen, eine Konstruktion, die ablenkt von den Abgründen, die sich bei der Berührung des menschlichen Verstandes mit den Urgründen des Seins einstellt. Man weicht der Radikalität der Frage aus, entweder mit der Augustinus oder Tertullian zugeschriebenen Antwort: „credo quia absurdum“ oder mit der negativen Theologie der „docta ignorantia“ des Cusanus. Aber Antworten sind oftmals das Unglück der Frage, wie Novalis treffend konstatiert hat.. Das Gefühl der tiefen Beunruhigung, das hervorgerufen wird, wenn der Mensch sich ernsthaft auf dieses Problem einlässt, wird verdrängt, was Franz Kafka zu der Aussage veranlasst hat: „Das ganze Leben ist eine einzige Ablenkung, die nicht einmal darüber zur Besinnung kommen lässt, wovon sie ablenkt.“ Es entsteht das Bedürfnis nach einem Ersatz für die verspürte Leere. Das Gefühl des schutzlosen Ausgeliefertseins im Universum produziert Antworten, die von dem Unbehaustsein erlösen sollen. Sinngebung ist gefragt für Gefühle wie Angst, Hunger, Durst, Schmerz, die Suche nach Schutz oder Anerkennung, die das Denken steuern. Es müssen Antworten her, Angebote, die solche auf Illusiomnen beruhende Unlustgefühle (Sigmund Freud) ertragen helfen, ja sich in Zustände umdeuten lassen, mit denen sich dauerhaft angstfrei leben lässt, weil befriedigende Erklärungen für alles Leiden, für Schicksalsschläge und empfundenen Ungerechtigkeiten zur Hand sind. Das gilt besonders für die stärkste Form der Angst, die das Menschsein bedroht: die eng begrenzte Lebenszeit. Sie soll sich kurzerhand mit Hilfe überirdischer Mächte in die Hoffnung verwandeln, der leibliche Tod sei nicht das Ende von allem, es gibt noch etwas danach und zwar etwas Erstrebenswertes, einen Art Paradies. Schon früh in der Menschheitsgeschichte sind offenbar Lösungen erdacht worden, die eine Projektion der Schutz- und Heilsbedürfnisse auf eine überirdische Welt unsterblicher Götter und Geister vorsahen. Ihnen schob man die Verantwortung für alles Geschehen zu, zugleich ließen sie sich aber auch in gewissem Maße mit magischem Zauber beeinflussen. Diese Interaktion mit den Göttern geschah über Rituale zur Abwehr des Unheils und zur Beschwörung des Heils. Alle Arten von Opfern dienten dazu, das Wohlwollen der unsichtbaren Mächte zu erlangen Die Kommunikation darüber vollzog sich zunächst ohne sprachlichen Ausdruck und schriftlos über rhythmische Bewegung, Tanz, Pantomime, Körperbemalung, Trancezustände etc., also außeralltäglich. Innerhalb der Gemeinschaft fand sie in der Regel in Form von rauschhaften Feiern und Festen nach festgelegten Abläufen statt, die nicht zuletzt der sozialen Identitätsbildung dienten und darüber hinaus zur Abgrenzung nach außen sowie zur Konfliktbewältigung nach innen beitrugen.. Im darauf folgenden Zeitalter entstanden, ohne dass die Rituale verloren gingen, in diesem Rahmen mythische Erzählungen, die bereits rationale Formen der Verarbeitung von Erfahrungen annahmen und welterschließende Funktion hatten. Diese Innovationen bereiteten in der sogenannten „Achsenzeitlichen Transformation“ (Karl Jaspers) im Laufe des 1. Jahrtausends vor unserer Zeitrechnung den kognitiven Durchbruch der Transzendierung einer bis dahin in Begriffen der mythischen Götterwelt vorgenommenen Selbst- und Weltdeutung vor. Die Epoche der bis heute existierenden Weltreligionen nahm ihren Anfang. In den westlichen monotheistischen Varianten trat dabei die Vaterfigur in den Vordergrund religiöser Vorstellungen. Ihm wird die Schöpfung allen Lebens zugesprochen, er liebt und straft und schützt, er belohnt und zeichnet für alles, was geschieht. Vulgo Gott genannt, tritt er an die Stelle des Unergründlichen und wird vom Menschen gleichzeitig personalisiert und in die Transzendenz versetzt. Damit wird er einerseits allmächtig, andererseits bietet er eine Projektionsfläche für alle denkbaren Bedürfnisse: Wunscherfüllung, Hoffnungen, Angstbewältigung, Ausgleich der herrschenden irdischen Ungerechtigkeiten und firmiert schließlich als Garant des Weiterlebens nach dem leiblichen Tod. Um die Wünsche und Erwartungen zu unterstützen, wird von den Menschen gebetet, geopfert, werden Denkmäler gesetzt, Tempel gebaut, Propheten und Heilige als Mittler verehrt („do ut des“). Im Grunde genommen verbirgt sich dahinter immer noch die Antwort des Kindes auf eine ihm zutiefst fremde Welt, die es sich vertraut und geneigt machen will („Wir sind alle Gotteskinder“). Außerdem  ist nicht zu unterschätzen, dass Religionen  das Gemeinschaftserlebnis erfahrbar machen, das einhergeht mit der Abgrenzung von anderen Glaubensystemen, und so die Teilnahme am Mitbesitz der "einzigen Wahrheit" fördert und somit das Selbstbewusstsein stärkt.                                         Dabei hat sich der Monotheismus als besonders durchsetzungfähig erwiesen. Wenn man nicht schon die kurze Phase von Echnatons Herrschaft im Ägypten des 14.Jahrhunderts v.u.Z. mit der Verehrung des einen und einzigen Gottes Aton als Ursprung dieses Prozesses annehmen will, war es das Hirtenvolk der Juden, das damit begann, sich dem imaginären=unsichtbaren Vater/Gott zu unterwerfen und sich von ihm eine Fülle von Gesetzen, Geboten und Verboten auferlegen zu lassen, die bis heute den Alltag der frommen Juden und den theokratischen Charakter ihrer Staatsvorstellung prägen. Als variationsfähiges Muster diente diese Verehrung des einzigen Gottes Jahweh danach dem Christentum und dem Islam als Vorbild.                                                  Bei den alten Griechen war es passenderweise gleich eine ganze (Götter-) Familie mit ihren bekannten Streitigkeiten, die die Rolle der Unsterblichen und Unnahbaren einnahm. Ihrer Willkür sah sich der sterbliche Mensch ausgeliefert, wenn sie denn ins menschliche Leben eingriffen. Durch Opfer, Gebete und allerlei Rituale waren sie immerhin zu besänftigen. Die Römer übernahmen das Muster praktischerweise eins zu eins und tauschten nur die Namen aus. Nur wenigen half die Lektüre von Demokrit, Xenophanes, Epikur oder Lukrez ("De natura"), die das Menschengemachte der Götter früh durchschauten, zu anderen Erkenntnissen über den Gang der Dinge in der Welt und die Rolle des Menschen.                                   Die Christen begnügten sich zunächst mit Vater, Sohn und einem undefinierbaren Heiligen Geist, näherten sich mit der Zeit aber durch die Hinzufügung der Mutter Maria dem tradierten polytheistischen Familienschema an, wenn auch ohne familiäre Streitkultur. Nur auf den ersten Blick weicht die  lutherische Formel  des "sola fide", die allein auf die Gnade des „Vaters“ setzt, davon ab. Sie ordnet die Wertschätzung persönlicher Leistungen lediglich dem bedingungslosen Glauben unter. Trotz aller möglichen Leidenserfahrung gelangte man so zum Heil. In der calvinistischen Variante des Protestantismus wird es durch den ökonomischen Erfolg bereits im Hier und Jetzt signalisiert.                                                         Die Muslime, in allen Variationen, kehrten im Gegensatz zur christlichen Trinitätslehre zum allein herrschenden, jüdischen pater familias zurück, dessen Geboten man sich bedingungslos zu unterwerfen hat. Ein streng autoritäres Modell, das die Nachfolger des Propheten Mohammed fleißig ausbauten und ihre Gefolgschaft damit in den überkommenen Gesellschaftsstrukturen fixierten, die die gewohnten Stammes- und Clanstrukturen tradierten. Die religiöse Illusion hat sich in einer Jahrtausende langen Entwicklung zu gewaltigen theologischen Systemen ausgeweitet. Da Gefühle und Wünsche, nicht nur in Momenten krisenhafter Bedrängnis das Denken und Handeln der meisten Menschen steuern, gewinnen sie gegenüber rationalen, vernunftbegründeten Überlegungen die Oberhand.                                      Im Gegensatz zu den monotheistischen Deutungsschemata trösteten sich die Hinduisten und Buddhisten in ihrer Antwort auf die unergründlich letzten Fragen mit der Vorstellung vom Rad der ewigen Wiederkehr, das keinen Anfang und kein Ende kennt, also dem Kreislauf des Stirb und Werde, dem Menschen und auch Götter unterworfen sind. Religio im strengen Wortsinn von Rückbindung (an das Transzendente) ist das nicht, eher eine vertiefte Anschauung von Natur und Kosmos, um daraus Welterkenntnis und Lebenssinn abzuleiten: Immanenz statt Transzendenz. Einen Ausweg aus dem Lebensrad, dem „samsara“, das den Menschen dem Wiederkehrungszwang enthebt, ist danach nur Wenigen durch asketische Entbehrung, die den Schein (Maya) durchschaut und zur Erleuchtung im Nirwana führt, möglich. Zum Trost für den Rest der Menschen wurde die Lehre von der Wiedergeburt erfunden, der man je nach Anhäufung persönlicher Schuld, dem „Karma“, zuversichtlich oder verzweifelt entgegen sehen kann. Damit ist der Gedanke von Belohnung und Strafe erhalten und die Gesellschaft disziplinierbar geblieben. Die allzeit pragmatischen Chinesen wiederum versetzten kurzerhand ihre eigenen Eltern und die weiteren Ahnen in ein Jenseits der Lebendigen, aber nicht allzu weit weg, sodass sie die nachkommende Familie überwachen und schützen können. Zum Dank erhalten sie neben der Verehrung Speis' und Trank im Jenseits und etwas Geld. Der verbreitete Konfuzianismus beschränkt sich ganz diesseitig auf eine Tugendlehre, die den Staat samt Oberhaupt vergöttlicht.                                                Wer im 21. Jahrhundert noch an diese religiösen Narrative glaubt, muss sich fragen lassen, ob er nicht mit geschlossenen Augen durchs Leben geht, oder nur einer bequemen Strategie der Selbstberuhigung frönt, die ihn von lästigem Nachdenken befreit. Zum Dank für den Verzicht aufs genaue Hinschauen wird freilich die soziale Inklusion gewährt, wenn auch mit unterschiedlichen Aussichten auf ein lebenswertes Leben. So besteht die wesentliche Leistung von Religion und ihrer modernen Surrogate in der Produktion und Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Zusammenhalts mittels einer scheinbar transzendental begründbaren Moral und ihrer Normen, die auf diese Weise unantastbar gemacht wurden und deshalb nicht infrage zu stellen sind. Sie ermöglichen ein vergleichbar hohes Maß an sozialer Kohäsion, das dadurch entsteht, dass sich eine kleine Minderheit der Gläubigen in aufopferungsvoller Weise oft lebenslang der Sorge für Andere widmen, während eine Mehrheit mehr oder weniger die gängigen sozialen Normen einhält.                                      Unbestreitbar bleibt dagegen die explosive, religiös motivierte Freisetzung kultureller Kreativität der Menschheit in ihren verschiedenen Varianten in allen religionen, die sich in Gestalt von eindrucksvollen Tempeln, Kathedralen, Moscheen, Gemälden, Kompositionen und anderer Kunstwerke höchster Qualität manifestiert und die das kulturelle Leben entscheidend bereichert haben. Leider sind aber auch die leidvollen, negative Nebenwirkungen der Glaubensausübung nicht zu übersehen. Sie sind mit der Ausgrenzung der jeweils Nicht-Gläubigen oder von Dissidenten verbunden. Mit ihren oftmals extrem gewaltförmigen Vernichtungsexzessen gegen vermeintlich Abtrünnige, die die politische Instrumentalisierung der Religionen durch die Mächtigen seit Jahrtausenden begleitet, zieht sich eine blutige Spur durch die Geschichte der Menschheit, die bis in die Gegenwart anhält. Fragt man nach den Anfängen dieser Entwicklung stößt man auf die Herausbildung hierarchischer, militärisch gestützter Herrschaft, die nach religiöser Legitimation verlangte. Insbesondere seit der Bronzezeit, in der die ersten staatlich zu nennenden Gebilde entstanden, die ersten gesellschaftliche Schichtungen mit Unterschieden in Rängen und Privilegien deutlich sichtbar wurden, verstärkte sich die Bereitschaft zur Herrschaftssicherung Einzelner oder von Eliten, eine Legitimation durch deren Bezug aufs Göttliche zu erzeugen (z. B. per Herrschersalbung), um die Untertanen bei der Stange zu halten. Zwar sind seit der europäischen Aufklärung wesentliche Lockerungen der religiös bestimmten Zwänge zu beobachten, aber das betrifft bisher, global gesehen, nur regionale Zustände (vor allem in den westlichen Teilen Europas), die durchaus wieder regressiven Tendenzen weichen können. Bis die Menschheit sich der überwältigenden Tatsache der Unerkennbarkeit des letzten Grundes ihrer Existenz ohne Scheu stellt und auf den Versuch verzichtet, das eigene unvollkommene Erkenntnisvermögen durch religiöse und ersatzweise weltanschauliche Konstrukte zu verdecken, dürfte noch viel Zeit vergehen und viel Leid im Namen religiöser Dogmen verursacht werden. Wenn es überhaupt je gelingt, die destruktive Erblast der Religionen oder der teilweise an ihre Stelle getretenen Ideologien abzuschütteln, dann nur, wenn allgemein akzeptiert wird, dass der Sinn des Lebens das Leben selbst ist, und nichts darüber Hinausreichendes. Diese Erkenntnis schließt freilich die Anerkennung der Notwendigkeit solidarisches Handeln auf der unverrückbaren Tatsache der Sozialität menschlichen Zusammenlebens unabdingbar ein:“ Ich existiert nicht ohne ein Du.“ Frei von Ideologien und Religionen könnte sich so menschliches Leben in Form wechselseitiger Anerkennung und Kooperationsbereitschaft entfalten. Eine Utopie gewiss, aber eine denkbar.                                                                            Bremen, Februar 2024         

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© Eberhard Schmidt