Eberhard Schmidt

 

Religionen

Vom Nutzen und den Gefahren einer Illusion

 

 

Warum glauben im Zeitalter der Wissenschaft noch immer so viele Menschen an überirdische Wesen, denen sie angeblich ihre Existenz verdanken, die in ihr persönliches Leben eingreifen und die sie glauben, beeinflussen zu können, ohne dass es dafür irgendwelche nachprüfbaren Belege gibt?

Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns zum einen vergewissern, welchen Nutzen und welche Vorteile dieser Glaube an transzendente Wesen für seine Anhänger bietet, zum anderen müssen wir uns vergegenwärtigen, wie religiöses Handeln entstanden ist und wie es sich seit den Zeiten der frühen Menschheit in den verschiedenen Kulturen und Zivilisationen entwickelt hat. Wir müssen also Genesis und Geltung der religiösen Praxis und des religiösen Denkens in Augenschein nehmen.

 

Vom Nutzen des Glaubens

Sigmund Freud sah im religiösen Glauben „einen Schatz von Vorstellungen, geschaffen , geboren aus dem Bedürfnis, die menschliche Hilflosigkeit erträglich zu machen.“ Das Geheimnis der religiösen Vorstellungen erklärt sich aus den „ältesten und dringlichsten Wünschen der Menschheit...Das Geheimnis ihrer Stärke ist die Stärke dieser Wünsche.“ Etwas später definiert er Religion als „Illusion zur Vermeidung von Unlustgefühlen“, wobei er Illusion nicht mit Irrtum gleichsetzt: „Für die Illusion bleibt charakteristisch die Ableitung aus menschlichen Wünschen“. In dieser Formulierung, die der zeitlebens irreligiöse Begründer der Psychoanalyse vertrat, wird sowohl auf das Irrationale des religiösen Glaubens hingewiesen, als auch auf dessen Vorteile. Zu der Verdrängung der angesprochenen Unlustgefühle zählen in erster Linie Ängste vor dem Tod als dem unwiderruflichen Ende der eigenen Individualität, aber auch die Angst vor Schicksalsschlägen oder vor der Gefahr der Ausgrenzung aus der Gemeinschaft. Zu den negativen Gefühlen kommen die Unsicherheit beim Handeln in einer komplexen Welt, die Unerreichbarkeit von Wünschen oder die Erfahrung von Ungerechtigkeit, um nur einige derartiger Gefühle zu nennen. Um solche Leid, Angst und Schmerzen bis hin zu Depressionen und Suizidgedanken verursachenden Gefühle zu vermeiden, bietet sich als Heilmittel der religiöse Glaube als ein System an, das diese existentiellen Bedrohungen zu beseitigen oder mindestens zu verringern verspricht.

Gläubige, welcher Religion oder Glaubensgemeinschaft auch immer, haben deshalb gemeinsam:

  • die begründete Hoffnung auf ein Weiterleben nach dem Tod (Paradies, Wiedergeburt, Erleuchtung etc.),

  • die scheinbar feste Orientierung in einer schwer überschaubaren, komplexen Welt, die zu moralischer Sicherheit beiträgt und Fragen nach dem Sinn des Lebens beantwortet,

  • die Erwartung von Wohlgefühl und Sicherheit, was die Zugehörigkeit zu einer mehr oder minder großen Gemeinschaft bedeutet, in der der Einzelne aufgehoben ist, allerdings um den Preis der Abgrenzung gegenüber anderen religiösen oder nicht-religiösen Gruppen,

  • das Vertrauen, geistige Hilfe und Trost bei unvorhersehbaren Unglücksfällen, Schicksalsschlägen und ähnlichen Notfällen zu bekommen,

  • die Unterstützung bei der Erfüllung von Wünschen, die durch eigene Anstrengungen nicht erreichbar scheinen,die Hoffnung auf Gerechtigkeit,

  • die in der irdischen Welt nicht erfüllt wird, und damit die Verhinderung von Gefühlen der Verzweiflung,

  • das erhebende Gefühl, an einer spirituellen „Heiligkeit“ teilzuhaben.

Religion könnte man kurz definieren als Angstmanagement, Wunscherfüllungsmaschine und Zugehörigkeitssicherung.

Um diese Vorteile zu genießen, bedarf es im Normalfall auf der persönlichen Ebene keines übermäßig großen Aufwands. Es kommt zu keiner Überforderung des Einzelnen. Es reicht das Bekenntnis zu den jeweiligen transzendenten Wesen, der Gehorsam gegenüber ihrer Priesterschaft (Kirche), das regelmäßige Beten, der Kirchgang, die Verteilung von Spenden und Almosen, das Befolgen der gängigen Rituale der Gemeinschaft sowie das Führen eines möglichst moralischen oder gottgefälligen Lebens. Oft reichen schon Teile davon aus, um den Glauben oder Reste davon zu bewahren. So reduziert sich der Glauben für den Einzelnen im Durchschnitt meistens auf ein „do ut des“ - Verhältnis: Ich gebe Dir und Du gibst mir, eine Art Versicherungssystem.

Auf der gesellschaftlichen Ebene garantieren entsprechende staatlichen Gesetze die Vorherrschaft einer bestimmten Religion. Aber auch im Bau von Kirchen, Moscheen, Tempeln, Synagogen manifestiert sich der Glaube und die Verehrung der jeweiligen Götter und Heiligen. In manchen Kulturen auch durch den Erhalt von vielfältigen religionsgebundenen Einrichtungen im Sozial- und Bildungsbereich (Pflegeheime, Kindergärten, Schulen etc.). Kirchensteuer oder ähnliche Verfahren sorgen für die ausreichende Finanzierung. Die sichtbare Traditionspflege (staatlich geförderte Feiertage, Prozessionen, Pilgerfahrten etc.) trägt dazu bei, den Glauben in der Öffentlichkeit zu verfestigen. Religionsleugner erleiden oft Nachteile oder sogar Sanktionen und werden ausgegrenzt. In Ausnahmefällen ist die Bereitschaft zur Verteidigung der Glaubensgemeinschaft gefordert (Religionskriege), schlimmstenfalls der Märtyrertod.

 

 

Von der Entstehung der Religionen und ihrer Entwicklung

Über die Entstehung religiöser Praxis in der Frühzeit der Menschen haben wir inzwischen nachweislich begründete Kenntnisse aus den archäologischen, paläontologischen, paläogenetischen, religionswissenschaftlichen und historischen Forschungen. Danach ergibt sich das folgende Bild:

Erfahrungen über das Wesen ihrer Umwelt haben die frühen Menschen im wesentlichen durch die Beobachtung der Natur, die sie umgab, gemacht. Sie haben sowohl den ewigen Kreislauf des „Stirb und Werde“, der alles Lebendige betrifft, in ihr Wissen aufgenommen, als auch in langen Jahrhunderten der Beobachtung die wechselnden Konstellationen des Sternenhimmels erkannt. Die sie umgebene Natur war ihnen Ernährer, Beschützer und Gefahr zugleich. Sie empfanden sie als beseelt (Animismus). Um sie sich geneigt zu machen und Gefahren für sich abzuwenden, brachten sie den sie umgebenden, nicht sichtbaren, aber durch magische Prozeduren beeinflussbaren Wesen (Geistern der Bäume, der Flüsse, der Tiere etc) mit Ritualen und Opfern Verehrung entgegen. Lebensweisen, die man bei den letzten, in urzeitlichen Verhältnissen lebenden Menschengruppen, die in der Abgeschiedenheit von den sogenannten Hochkulturen leben, aber auch bei vielen indigenen Gemeinschaften noch heute beobachten kann. Rudimente davon tauchen auch in den Hochkulturen noch auf.

Aus den Frühformen einer Erzählkultur entstanden schließlich, vermutlich beim Zusammensitzen vor dem nächtlichen Höhlenfeuer, die ersten Geschichten, die auf eine überirdische Welt hinwiesen, der man die Verantwortung für alles Geschehen zuschob, die man aber auch fürchtete und mit Verehrungsritualen beschwichtigen musste. Diese Interaktion mit den Geistern und später den Göttern geschah über Rituale zur Abwehr des Unheils und zur Beschwörung des Heils. Alle Arten von Opfern (Tier- und Menschenopfer) dienten dazu, das Wohlwollen der unsichtbaren Mächte zu erlangen. Die Kommunikation vollzog sich über viele Generationen hinweg ohne schriftlichen Ausdruck, vor allem über rhythmische Bewegung, Musik, Tanz, Pantomime, Körperbemalung etc., also außeralltägliche Verhaltensweisen, eingebettet in rauschhafte Feiern und Feste nach festgelegten Abläufen, die nicht zuletzt der internen, sozialen Kohäsion und Identitätsbildung dienten, mithin zur Konfliktbewältigung nach innen beitrugen und zur Abgrenzung nach außen.

In darauf folgenden Zeitaltern entstanden, ohne dass die Rituale verloren gingen, in diesem Rahmen mythische Erzählungen, die in der Bronzezeit bereits rationale Formen der Verarbeitung von Erfahrungen annahmen und welterschließende Funktionen übernahmen. Diese Innovationen bereiteten in der sogenannten „Achsenzeitlichen Transformation“ (K. Jaspers) im Laufe des 1. Jahrtausends vor unserer Zeitrechnung „den kognitiven Durchbruch der Transzendierung einer bis dahin in Begriffen der mythischen Götterwelt vorgenommenen Selbst- und Weltdeutung vor“. Die bis heute existierenden Weltreligionen entstanden. Gleichzeitig traten aber auch schon vereinzelte Denker unter den frühen griechischen Philosophen auf, die grundlegende Zweifel an der Existenz überirdischer Götterwelten äußerten, und diese Welten als von Menschen generierte Projektionen entlarvten, was ihnen oft Verfolgung oder Tod wegen Asebie (Gotteslästerung) einbrachte.

Mit der Verbreitung der monotheistischen Varianten der Religionen und ihren Theologien gerieten die älteren mythologischen Vorstellungen in den Hintergrund und wurden abgelöst von religiösen Systemen, die Vaterfiguren in den Vordergrund rückten, die nun für alles, was geschieht, verantwortlich gemacht wurden. In den monotheistischen Varianten trat als Denkfigur an die Stelle des Unergründlichen der menschlichen Existenz der mit Allmacht ausgestattete, Gehorsam einfordernde „Gott“ und wurde vom Menschen in die Transzendenz versetzt. Damit bietet dieser Vatergott eine Projektionsfläche für alle denkbaren Bedürfnisse: für Wünsche, Hoffnungen, Ängste, einen Ausgleich der herrschenden Ungerechtigkeiten und schließlich fungiert er als Garant des Weiterlebens nach dem irdischen Tod.

Wenn man nicht schon die kurze Phase von Echnatons Herrschaft im Ägypten des 14.Jahrhunderts v.u.Z. mit der Verehrung des einen und einzigen Gottes Aton als Ursprung dieses Prozesses annehmen will, war es das Hirtenvolk der Juden, das nach der Auswanderung aus der ägyptischen Knechtschaft damit begonnen hat, sich dem imaginären=unsichtbaren Vater/Gott zu unterwerfen und sich von ihm eine Fülle von Gesetzen, Geboten und Verboten hat auferlegen lassen, die bis heute den Alltag der frommen Juden und den theokratischen Charakter ihrer Staatsvorstellung prägen.

Um die Wünsche und Erwartungen des Gottes zu erfüllen. wird gebetet und geopfert, werden Denkmäler gesetzt und Tempel gebaut. Im Grunde ähnelt das sehr an die Antwort des Kindes auf eine ihm noch zutiefst fremde Welt, die es sich vertraut und geneigt machen will, in dem es sie in die Welt der Familie, wie es sie erlebt, integriert („Wir sind alle Gotteskinder“).

Diese Illusion hat sich in einer Jahrtausende langen Entwicklung zu subtilen theologischen Systemen ausgeweitet. Da Gefühle und Wünsche, nicht nur in Momenten krisenhafter Bedrängnis, das Denken und Handeln der meisten Menschen steuern, gewinnen sie gegenüber rationalen, vernunftbegründeten Überlegungen für lange Zeit die Oberhand.

Unter der Herrschaft polytheistischer Geister und Götterfamilien spaltete sich früh die Verehrung auf, je nach Bedarf, den es zu befriedigen galt. Bei den heute nur noch historisch existierenden Religionen der antiken Griechen und später bei den Römern, aber auch bei den Germanen oder Indern waren es passenderweise gleich ganze (Götter-) Familien mit ihren bekannten Streitigkeiten, die die Rolle der Unsterblichen und unnahbaren Allmächtigen einnahm. Ihrer Willkür war der sterbliche Mensch ausgeliefert, wenn sie denn ins menschliche Leben eingriffen. Durch Opfer, Gebete und allerlei Rituale waren sie immerhin zu besänftigen. Nur wenigen unabhängig Denkenden half die Lektüre von Demokrit, Xenophanes, Epikur oder Lukrez ("De natura"), die den Trugschluss früh durchschauten, zu anderen Erkenntnissen über den Gang der Dinge in der Welt.

Die Christen begnügten sich zunächst mit Vater, Sohn und einem undefinierbaren Heiligen Geist, näherten sich mit der Zeit aber, in der katholischen Variante, durch die Hinzufügung der Mutter Maria dem tradierten Familienschema an, wenn auch ohne familiäre Streitkultur. Nur auf den ersten Blick weicht die  lutherische Formel  des "sola fide", die allein auf die Gnade des „Vaters“ setzt, davon ab. Sie ordnet die Wertschätzung persönlicher Leistungen dem bedingungslosen Glauben an den Vater und seine Familie unter. Trotz aller möglichen Leidenserfahrung gelangt man so zum Heil. In der calvinistischen Variante des Protestantismus wird es durch den ökonomischen Erfolg bereits im Hier und Jetzt signalisiert.

Die Muslime, in allen Variationen, kehrten im Gegensatz zur christlichen Trinitätslehre zum allein herrschenden, (jüdischen) pater familias zurück, dessen Geboten man sich bedingungslos zu unterwerfen hat. Ein streng autoritäres Modell, das die Nachfolger des Propheten Mohammed fleißig ausbauten und ihre Gefolgschaft damit in den überkommenen Gesellschaftsstrukturen fixierten, die die vorhandenen Stammes- und Clanstrukturen tradierten und verfestigten.

Im Gegensatz zu den monotheistischen Deutungsschemata trösteten sich die Hinduisten und Buddhisten in ihrer Antwort auf die unergründlich letzten Fragen mit der Vorstellung vom Rad der ewigen Wiederkehr, das keinen Anfang und kein Ende kennt, also dem ewigen Kreislauf des Stirb und Werde. Religio im strengen Wortsinn von Rückbindung (an das Transzendente) ist das nicht, eher eine Überhöhung der Anschauung der Gesetze von Natur und Kosmos, um daraus Welterkenntnis und Lebenssinn abzuleiten. Immanenz statt Transzendenz. Einen Ausweg aus dem Lebensrad, dem „samsara“, ist danach nur Wenigen durch asketische Erleuchtung möglich, die sie dadurch dem Wiederkehrungszwang enthebt.. Zum Trost für den Rest der Menschen wurde die Lehre von der Wiedergeburt erfunden, der man je nach Anhäufung persönlichen Karmas zuversichtlich oder verzweifelt entgegen sehen kann. Damit ist der Gedanke von Belohnung und Strafe erhalten und die Gesellschaft disziplinierbar geblieben.

Die allzeit pragmatischen Chinesen wiederum versetzten kurzerhand ihre eigenen Eltern und die weiteren Ahnen in ein Jenseits der Lebendigen, aber nicht allzu weit weg, sodass sie die nachkommende Familie überwachen und schützen können. Zum Dank erhalten sie neben der Verehrung Speis' und Trank im Jenseits und etwas Geld.

Religionswissenschaftler gehen davon aus, dass es im Laufe der menschlichen Geschichte etwa zehntausend Religionen oder religionsähnliche Gemeinschaften gibt oder gegeben hat.

Nun sind aber negative Wirkungen der Glaubensausübung nicht zu übersehen, was mit der Konkurrenz zwischen den verschiedenen Religionen und deren Alleinvertretungsanspruch auf die jeweilige Glaubenswahrheit verbunden ist. Ausgrenzung der jeweils Andersgläubigen (Heiden) oder von Dissidenten gehört zu den Grundprinzipien aller Religionen. Mit ihren oftmals extrem gewaltförmigen Vernichtungsexzessen gegen Andersgläubige, die die Instrumentalisierung der Religionen durch die Mächtigen begleitet, zieht sich eine blutige Spur durch die Geschichte der Religionen, die bis in die Gegenwart anhält. Fragt man nach den Anfängen dieser Entwicklung stößt man auf die Herausbildung hierarchischer, militärisch gestützter Herrschaft nach der allmählichen Sesshaftwerdung der Menschen seit etwas 11000 Jahren. Die entstehenden Machtstrukturen und Hierarchien verlangten nach religiöser Legitimation, um sich zu behaupten. Insbesondere seit der Bronzezeit, in der die ersten staatlich zu nennenden Gebilde entstanden und die ersten gesellschaftlichen Schichtungen mit Unterschieden in Rängen und Privilegien deutlich sichtbar wurden, verstärkte sich diese Notwendigkeit zur Herrschaftssicherung Einzelner oder von Eliten, eine Legitimation mit Bezug aufs Göttliche herzustellen, um die Untertanen bei der Stange zu halten (z. B. als Herrschersalbung, Behauptung göttlicher Abkunft der Herrscher etc.),.

Zwar sind seit der europäischen Aufklärung und der französischen Revolution wesentliche Lockerungen der religiös bestimmten Zwänge zu beobachten, auch zum Verhältnis staatlicher Macht und Kirche, aber das betrifft bisher, global gesehen, nur regionale Gebiete (vor allem in den westlichen Teilen Europas, in Teilen der USA und Australien/Neuseelands), die aber durchaus wieder regressiven Tendenzen weichen könnten.

Unbestreitbar bleibt allerdings die explosive, religiös motivierte Freisetzung kultureller Kreativität in Gestalt von eindrucksvollen Bauten (Tempeln, Kathedralen, Moscheen, Stupa), Gemälden, Kompositionen und anderer Kunstwerke höchster Qualität, die das kulturelle Leben der letzten Jahrtausende entscheidend bereichert haben.

 

Bilanz

Wer im 21. Jahrhundert noch an die religiösen Narrative glaubt, muss sich fragen lassen, ob er nicht mit geschlossenen Augen durchs Leben geht, oder nur einer bequemen Strategie der Selbstberuhigung frönt, die ihn von lästigem Nachdenken befreit. Zum Dank für den Verzicht aufs genaue Hinschauen wird freilich die soziale Inklusion gewährt, wenn auch mit unterschiedlichen Aussichten auf ein lebenswertes Leben. So besteht die wesentliche gesellschaftliche Leistung von Religion und ihrer modernen Surrogate in der Produktion und Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Zusammenhalts mittels einer scheinbar transzendental begründbaren Moral und ihrer Normen, die auf diese Weise unantastbar gemacht wurden und deshalb nicht infrage zu stellen sind. Sie ermöglichen ein vergleichbar hohes Maß an sozialer Kohäsion, das dadurch entsteht, dass sich eine kleine Minderheit der Gläubigen in aufopferungsvoller Weise oft lebenslang der Sorge für Andere widmen, während eine Mehrheit mehr oder weniger nur die sozialen Normen einhält. Freud zufolge war Religion einst eine zivilisatorische Instanz, heute sollte sie als Illusion erkannt werden sowie ihre Götter als Wunschvorstellungen, die die Größen- und Allmachtsphantasien der Menschen spiegeln.

Die Zahl derer, die sich zum christlichen Glauben bekennen, nimmt allerdings langsam aber stetig ab, zu mindestens in einigen westeuropäischen Ländern lässt sich diese Tendenz beobachten. Das ist, global betrachtet, aber eine Ausnahme. In anderen Kontinenten und Glaubensgemeinschaften ist das Bekenntnis zur Religion noch stabiler und wird weniger hinterfragt. Atheismus oder Irreligiösität, ebenso wie Minderheitsreligionen werden oft verfolgt.

 

Was bleibt? Der Mensch steht staunend, erschrocken, sprachlos dem letztlich Unerklärlichen seiner Existenz und der aller Wesen und Phänomene gegenüber. Warum gibt es mich überhaupt? Warum gibt es überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? Der Mensch will unbedingt Antworten darauf finden. Aber hier gilt, wie so oft: „Die Antwort ist das Unglück der Frage“ (Novalis).

Statt die Unergründlichkeit der Frage auszuhalten, wird die Zuflucht zu allzu raschen Antworten genommen, zu allerlei Konstruktionen, die ablenken von den Abgründen, die sich bei der Berührung des menschlichen Verstandes mit den Urgründen des Seins ergeben. Das Gefühl der tiefen Beunruhigung, das hervorgerufen wird, wenn der Mensch sich ernsthaft auf diese Frage einlässt, wird verdrängt. Oder wie Franz Kafka es einmal formuliert hat: „Das ganze Leben ist eine einzige Ablenkung, die nicht einmal darüber zur Besinnung kommen lässt, wovon sie ablenkt.“

Es entsteht das Bedürfnis nach einem Ersatz für die verbleibende Leere, nach Sinngebung. Das Gefühl des schutzlosen Ausgeliefertseins im Universum, produziert Antworten, die von dem kosmischen Unbehaustsein, der „metaphysischen Obdachlosigkeit“ (Habermas) erlösen sollen. Gefühle wie Hunger, Durst, Schmerz, das Bedürfnis nach Schutz, nach Anerkennung, schließlich die furchterregende Endlichkeit menschlichen Lebens sind starke Beweggründe, die das Denken steuern. Es müssen Antworten her, Angebote, die solche Unlustgefühle ertragen helfen, ja sich in Zustände umdeuten lassen, mit denen sich dauerhaft angstfrei leben lässt, weil befriedigende Erklärungen für alles Leiden, allfällige Schicksalsschläge und empfundene Ungerechtigkeiten zur Hand sind. Dazu verhelfen scheinbar Religionen, ideologische Weltanschauungen oder die Flucht in esoterische Gefilde.

Dagegen mahnte Freud: “Nein, unsere Wissenschaft ist keine Illusion. Eine Illusion aber wäre es zu glauben, dass wir woanders herbekommen könnten, was sie uns nicht geben kann.“ Bis die Menschheit sich der überwältigenden Tatsache der Unerkennbarkeit des letzten Grundes ihrer Existenz ohne Scheu stellt und auf den Versuch verzichtet, das eigene unvollkommene Erkenntnisvermögen durch anthropozentrische, herrschaftsnahe Konstrukte zu verdecken, dürfte noch viel Zeit vergehen und viel Leid im Namen religiöser Dogmen verursacht werden. Wenn es überhaupt je gelingt, die destruktive Erblast der Religionen oder der teilweise an ihre Stelle getretenen Ideologien abzuschütteln, dann nur, wenn allgemein akzeptiert wird, dass der Sinn des Lebens das Leben selbst ist, und nichts darüber Hinausreichendes. Diese Erkenntnis schließt freilich solidarisches Handeln auf der unverrückbaren Tatsache der Sozialität menschlicher Existenz und ihres Zusammenlebens unabdingbar ein. (Kein Ich ist ohne Du denkbar). Frei von Ideologien und Religionen könnte sich so menschliches Leben in Form wechselseitiger Anerkennung und Kooperationsbereitschaft entfalten. Eine Utopie, gewiss, aber eine denkbare.

 

Anmerkung:

Freud's Überlegungen zur Religion finden sich in:

Sigmund Freud, Die Zukunft einer Illusion (1927), in: Gesammelte Werke, XIV. Band (Werke aus den Jahren 1925-1931), Imago Publishing Co., Ltd., London 1948 ff., S. 380.

s. außerdem dazu:

Susanne Lanwerd: „Die Zukunft einer Religion“. Anmerkungen zu Sigmund Freuds Religionskritik, in: Dies. / Richard Faber (Hg.): Atheismus: Ideologie, Philosophie oder Mentalität. Würzburg 2006, S. 91-104.
Bremen, Dezember 2024

 

 

 

 

 

 

Eberhard Schmidt

112 jambische Zeilen über den Sinn und Unsinn des religiösen Glaubens

 

Wer bannt die Angst vor Leid und Tod?

Wer spendet Trost beim Schicksalsschlag?

Wer lindert Schmerzen und Verlust?

Wer hört uns an bei Not und Qual?

Wer sorgt für Sinn im kurzem Leben?

Wer scheidet jeweils Gut und Böse?

Wer schafft Gemeinschaft und Geselligkeit?

Wer ist für unsre Wünsche da?

Wer grenzt uns ab von fremder Art?

Wer baut uns auf mit heil'gem Wort?

Wem folgen wir in Kampf und Krieg?

Wem traun wir blind und fragenlos?

 

Die Antwort heißt für viele unter uns noch immer:

Es existiert ein unsichtbarer Gott,

an den wir glauben müssen,

auch weil er neben sich die Konkurrenz nicht duldet,

dem wir mit Opfer und Gebet, mit Pilgerfahrt und Tempelbau

für seine Sorge danken , die uns gilt.

Was tauschen wir dagegen ein?

Der Glaube schenkt uns ohne großen Aufwand

ein angenehmes Wohlgefühl.

Als stünden wir nun auf der rechten Seite,

sind stets gefeit vor allem Bösen,

wenn wir das Opfer gegen Schutz eintauschen,

vom „do ut des“ gemeinsam profitieren

wie beim gelungenen Versicherungsgeschäft.

 

Wie kam es eigentlich dazu?

Wie fing das alles an?

Begonnen hat es schon in jenen alten Zeiten einer frühen Menschheit,

als alle noch ums Höhlenfeuer saßen,

und sich Geschichten bang erzählten

von wundersamer, magischer Erfahrung,

von selt'ner Rettung aus Gefahr und Not,

als uns die übermächtige Natur

noch seelenvoll belebt erschien,

als wir noch rauschhaft Rituale bei wilden Festgelagen glücklich pflegten,

doch dunkel schon von einem Jenseits allen Lebens träumten

und in die frischen Gräber Gaben legten

für ein danach erhofftes neues Sein.

 

Auf diesem Grund

entstand viel später

in einer sogenannten Achsenzeit die Mär,

wir seien gar ein Abbild

des unsichtbaren, transzendenten Wesens,

das alles einst erschaffen hat in sieben kurzen Tagen

alleine durch sein Wort und seitdem über uns nun wacht.

Die Alten schrieben's eifrig nieder in Schriften, die man heilig nannte,

in wechselnden Kulturen unterschiedlich ausgeprägt,

die zu bezweifeln lange niemand wagte.

Fortan verehrten wir die fremde Macht durch Hörigkeit,

der Glaube diente uns als Kompass für moralisches Verhalten,

als unser aller Beitrag zu dem Wohlergehn des Volkes.

 

Jedoch, schon in antiken Zeiten

kam leiser Zweifel auf bei einigen Gelehrten,

es handle sich vielleicht bei diesen Götterwesen

in Wahrheit um ein Truggebilde,

vom Menschen einstmals selbst erdacht

und von den Mächtigen zur Herrschaftssicherung missbraucht,

sodass wir besser es beiseite lassen sollten

zugunsten der Verehrung der Naturgesetze.

 

Allein, der alte Glaube war noch lange überzeugungsstark

und gut geeignet, um absichtsvoll uns abzulenken vom großen Unrecht,

das wir hier geduldig still ertragen sollten.

Im Gegenzug zum Schutz, den er gewähre

vor Obdachlosigkeit im grenzenlosen All

verlangte Gott von uns,

Entbehrung zu ertragen ohne Klage.

 

Erst mit dem Durchbruch der modernen Forschung

in einer neuen Wissenschaft

kam endlich die längst überfällige Erkenntnis:

der Gottesglaube ruht auf einer Illusion.

Er spiegelt uns nur vor,

es hörte oben dort in Himmels Höhen wer den Menschen

und spräch' zu ihm in dunkler Nacht, vergäb' ihm gnädig böses Tun

und führt ihn schließlich in ein Paradies,

erlöst im Jenseits ohne Endlichkeit und Tod.

 

Tatsächlich war's, wie uns die Wissenschaft bewies

von Anbeginn, vor vier Milliarden Jahren, die evolutionäre Kraft,

Natur, die alles Leben auf dem Erdplaneten schuf,

die ohne festen Plan und ohne Ziel agiert,

gestützt auf Mutation und Nutzung passender Umgebungen,

die weiter wirkt bis heut' und in die fernen Tage.

 

So kam die Wende,

und es wurde nun allmählich klar,

dass unsre Existenz, postmetaphysisch,

den alten Glauben längst entbehren kann.

Dass solidarisches Verhalten gegenüber aller Kreatur

auch ohne religiöse Dogmen möglich ist,

in einer Welt, in der das Du und Ich

sich endlich ohne Neid und Angst vertrauen könnten.

 

Wir würden dann, um gut zu leben,

verzichten auf den alten Aberglauben,

vermeiden jenen Selbstbetrug, gebor'n aus eitler Projektion,

als stünden wir mit unserem erfinderisch begabtem Geist

weit über Allem an der Spitze,

als seien wir zum Herrn bestimmt auf dieser Erde,

die wir zum Untertan uns machen sollen,

wie uns die alten Schriften lehren wollten.

Entsagen könnten wir nun endlich auch dem Hochmut,

als wär'n wir mehr als Baum und Specht in einer allumfassenden Natur,

die wir inzwischen blind begonnen haben zu zerstören,

vielleicht schon bald den nach uns Kommenden

die Zukunft ein für alle mal zu nehmen.

 

Tatsächlich ist der Gottesglaube

ein überholtes, selbstbezog'nes, irregehendes Verlangen,

ein Sehnsuchtswunsch, bar jeglicher Vernunft.

Und mit der Projektion des Gottes

nur allzu rasch dahin gesagt

als Antwort auf die letzte, tiefste Frage,

die unser dreidimensionales Hirn noch immer übersteigt,

die absehbar wohl ohne Antwort bleiben muss:

Warum gibt es hier überhaupt etwas und warum nicht vielmehr nichts?

 

Bremen, Oktober 2024

 

 

 

 

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